Vielfalt statt Einheitsbrei: Warum Führung mehr Mut zur Individualität braucht

Warum das Imposter-Syndrom oft ein Zeichen dafür ist, dass wir uns in fremde Führungsrollen pressen – und wie wir stattdessen authentische Stärke entwickeln

„Du musst durchsetzungsfähiger werden", sagte mir damals meine Vorgesetzte nach einem Meeting, in dem ich eher durch gezieltes Nachfragen als durch laute Statements geführt hatte. Jahre später erkannte ich: Das Problem lag nicht an meiner Art zu führen – sondern daran, dass nur ein einziger Führungsstil als „richtig" angesehen wurde.

Das Märchen vom „einen" Führungsstil

Wie Ruchika Tulshyan und Jodi-Ann Burey im Harvard Business Review treffend feststellten: Es gibt nicht DEN einen Führungsstil. Trotzdem erlebe ich in meiner Arbeit mit Führungskräften immer wieder, wie sich Menschen in vorgegebene Muster pressen – und dabei ihre natürlichen Stärken verlieren.

Da ist die introvertierte Teamleiterin, die glaubt, sie müsse in jedem Meeting die Dominante sein. Oder der empathische Abteilungsleiter, der seine emotionale Intelligenz als Schwäche betrachtet, weil sie nicht zum Bild des „harten Entscheiders" passt.

Das Ergebnis? Führungskräfte, die sich wie Hochstapler fühlen – nicht weil sie inkompetent sind, sondern weil sie versuchen, jemand anderes zu sein.

Klarheit beginnt bei der eigenen Persönlichkeit

In der Individualpsychologie sprechen wir davon, dass jeder Mensch einen einzigartigen Lebensstil entwickelt – eine Art, wie er die Welt sieht und auf sie reagiert. Diese Individualität ist keine Schwäche, die es zu überwinden gilt, sondern die Grundlage für authentische Führung.

Die stillen Strategen führen durch durchdachte Entscheidungen und schaffen Räume, in denen andere sich entfalten können. Die empathischen Brückenbauer erkennen zwischenmenschliche Spannungen früh und lösen Konflikte, bevor sie eskalieren. Die visionären Enthusiasten inspirieren durch ihre Begeisterung und öffnen neue Perspektiven.

Alle diese Stile sind wertvoll. Alle können Teams zum Erfolg führen. Der Schlüssel liegt darin, den eigenen Stil zu erkennen, zu entwickeln und selbstbewusst zu leben.

Ermutigung als Führungsinstrument

Alfred Adler prägte den Begriff der Ermutigung als eines der wichtigsten Werkzeuge in der zwischenmenschlichen Arbeit. Für Führungskräfte bedeutet das: Statt Menschen zu „korrigieren" oder in vorgefertigte Rollen zu drängen, erkennen wir ihre individuellen Stärken und helfen dabei, diese zu entwickeln.

Praktisch bedeutet das:

  • Den introvertierten Mitarbeiter nicht zum Präsentationsprofi machen wollen, sondern seine analytischen Fähigkeiten für strategische Aufgaben nutzen

  • Der kreativen Querdenkerین Freiräume geben, statt ständige Struktur zu verlangen

  • Den detailorientierten Perfektionisten für wichtige Qualitätsaufgaben einsetzen, statt ihn zur Schnelligkeit zu drängen

Meine eigene Lernreise

Lange dachte ich, gute Führung bedeute, immer die Antwort zu haben. In einem besonders herausfordernden Projekt stand ich vor einem Problem, für das ich keine Lösung wusste. Statt zu schauspielern, gestand ich meinem Team ehrlich ein: „Ich weiß es nicht, aber gemeinsam finden wir einen Weg."

Was folgte, war eine der produktivsten Brainstorming-Sessions meiner Laufbahn. Das Team blühte auf, als der Druck weg war, dass der Chef schon alles wissen müsse. Meine „Schwäche" – das Eingestehen von Unwissen – wurde zur Stärke, die das Potenzial anderer freisetzte.

Diese Erfahrung lehrte mich: Authentische Führung bedeutet nicht, perfekt zu sein. Sie bedeutet, echt zu sein.

Vier Schritte zu Ihrem authentischen Führungsstil

1. Selbstreflexion statt Selbstkritik

Fragen Sie sich: In welchen Situationen führst du am natürlichsten? Wann fühlst du dich am wirkungsvollsten? Diese Momente zeigen deinen authentischen Stil.

2. Stärken identifizieren und ausbauen

Statt an Schwächen zu feilen, entwickle deine natürlichen Talente weiter. Ein empathischer Führungsstil wird nicht dadurch besser, dass du dir Härte antrainierst.

3. Das Umfeld gestalten

Schaffe bewusst Strukturen, die verschiedene Führungsstile unterstützen. Manche brauchen Ruhe für Entscheidungen, andere den Dialog im Team.

4. Ermutigung praktizieren

Erkennen Sie die individuellen Stärken in Ihrem Team und sprechen Sie sie gezielt an. Menschen wachsen durch Ermutigung, nicht durch ständige Korrektur.

Die Kraft der Vielfalt nutzen

In meiner Arbeit mit Führungsteams sehe ich immer wieder: Die erfolgreichsten Unternehmen haben nicht die einheitlichsten, sondern die vielfältigsten Führungsstile. Der analytische CFO ergänzt die visionäre CEO. Der empathische HR-Chef balanciert den ergebnisorientierten Vertriebsleiter.

Echte Klarheit in der Führung bedeutet nicht, allen anderen zu gleichen. Sie bedeutet, die eigene Einzigartigkeit zu erkennen, zu entwickeln und selbstbewusst zu leben.

Wenn du spürst, dass du dich in eine fremde Führungsrolle presst, ist das nicht dein Versagen – es ist ein Signal, dass du bereit bist für authentische Führung.

Die Frage ist nicht: „Wie werde ich die Führungskraft, die andere von mir erwarten?"

Die Frage ist: „Wie werde ich die Führungskraft, die in mir steckt?"

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Vom Zusammenbruch zur Selbstführung – Meine Reise zur Individualpsychologie